Claus Beese
- Das Zeitfenster -
Die Feldgeneratoren des Gleiters summten leise, als ich das auf Anti-Schwerkraftpolstern schwebende Fahrzeug aus dem Hangar steuerte. Nur eine Handbreit über dem Boden ließ ich den Gleiter über die Straßen des Dorfes hinunter zum Meer gleiten. Auf diesen Fahrbahnen hatten sich früher die bodengebundenen Fahrzeuge auf primitiven Rädern fortbewegt. In dem kleinen Küstenort an der Flensburger Förde herrschte Stille, außer mir war zu dieser nachtschlafenden Zeit noch niemand unterwegs. Ich lenkte den Gleiter über die Rampe hinaus auf das Wasser, über das ein flacher Dunst zog. Eine leichte Brise wehte über die See, trieb die Schleier vor sich her in Richtung Dänemark. Der kleine dänische Hafen Sonderburg auf der anderen Seite der Förde gelegen, war im Nebel nicht mehr zu sehen.
Ich hatte mir einen freien Tag genommen und freute mich darauf, den uralten Mustern der Evolution, die uns das Jagen und Fischen erlernen ließen, wieder einmal folgen zu können. Im Stillen pries ich die Erkenntnis der Wissenschaftler, dass nur ein freies Ausleben solcher psychologischer Grundbedürfnisse ein aggressionsfreies Miteinander in der Gesellschaft gewährleisten konnte. Nach ihren Erkenntnissen durften sie nicht unterdrückt werden. So hatte jeder Bürger das Recht, diesen Urinstinkten mehrmals im Jahr ungestört nachgehen zu dürfen. Kurzfristig konnte man dafür sogar den Arbeitsprozess unterbrechen. Man tat einfach alles, um die Zufriedenheit der Menschen zu fördern.
Ich ließ meinen Blick über die Weite des schimmernden Meeres schweifen. Im Osten glomm verhalten das erste Tageslicht auf, und die Sterne am Himmel fingen an zu verblassen, als drehte jemand ihr Licht wie mit einem Dimmer aus. Die See war ruhig, eine leichte Dünung hob das Fahrzeug sanft an, um es gleich darauf wieder in ein flaches Tal sinken zu lassen. Das Fluggerät verhielt sich wie eines der altertümlichen Boote, es bewegte sich in ständigem Auf und Ab der Wellen über die Wasserfläche.
Es war genau die richtige Zeit, den Dorschen aufzulauern, den gefleckten Räubern der See, die man darum auch Ostseeleoparden nennt. Sie folgten den Schwärmen der kleineren Fische in die seichteren Meeresgebiete, wo diese in dem vom Seegang aufgewühlten Wasser nach Nahrung stöberten. Die Dorsche waren auf der Jagd, und sie würden alles in sich hineinschlingen wollen, was nur entfernt an einen silbrig glitzernden Fisch erinnerte. Sie würden auch vor meinen metallenen Ködern nicht Halt machen.
Mit einem Blick auf das Navigationssystem vergewisserte ich mich, dass der rechte Kurs anlag. Mein Ziel war der Kalkgrund, eine vor der Schleswig-Holsteinischen Küste unter Wasser verlaufende Felsnase, auf der man einen Leuchtturm erbaut hatte, um der damaligen Schifffahrt auch bei Nacht eine sichere Ansteuerung der Flensburger Förde zu ermöglichen. Gleichzeitig diente er als markante Landmarke, die tagsüber den Sportbooten die Orientierung erleichterte. Es gab nicht mehr viele Menschen, die dem Segelsport nachgingen. Obwohl ich zugeben musste, dass auch ich der Faszination dieser altertümlichen Fortbewegung auf dem Wasser erlegen war. Allerdings war diese Freizeitbeschäftigung sehr zeitraubend, unterlag man doch den physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Vortriebs durch bewegte Luftmoleküle und der bremsenden Wirkung bei der Bewegung eines festen Körpers durch eine flüssiges Medium.
Vor dem Riff senkte sich der Meeresgrund bis auf beinahe dreißig Meter ab, und die an der Felskante entlang ziehende Strömung lenkte die Heringsschwärme und somit auch die Dorsche aus dem tiefen Wasser in die flacheren Bereiche der weit ins Land reichenden Bucht. Ich bremste den halboffenen Gleiter ab, bis ich genau über einer dieser Abbruchkanten schwebte, dann stoppte ich den Vortrieb. Ich ließ den Antigrav im Leerlauf arbeiten, sodass die Position in einem Meter Höhe über der Wasserfläche gehalten wurde. Bis auf das leise Summen des Generators war es fast still um mich herum. Erste Möwen hatten sich in den dämmernden Morgen geschwungen und begrüßten ihn mit lauten Schreien. Sie zogen am Himmel ihre Bahn, während das entfernte Plätschern der Wellen am Strand zu mir herüber klang. Sanft wiegte sich mein Gefährt auf den Wogen, die Luft roch würzig nach Tang und hinterließ einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Ich verhielt, um diesen Augenblick zu genießen.
Nach einer Weile betrat ich die Handlungsfläche im Fond des Gleiters. Ruhig und konzentriert montierte ich die Rute, fädelte die kräftige Schnur durch die Führungsringe und band am Ende eine Schlaufe, in die ich den metallenen Pilker einhängte, der durch seine auffälligen, taumelnden Bewegungen die Dorsche zum Anbiss verleiten sollte. Ich trat an die Bordwand. Mit viel Schwung beförderte ich den Köder weit hinaus in die See, wartete bis er auf den Grund abgesunken war und begann dann, ihn mit gefühlvollem Zupfen langsam wieder heranzukurbeln. Als wären keine Fische da, so tauchte der Köder aus dem Meer auf. Erneut warf ich die Montage aus und holte sie wieder ein. Doch die Haken blieben leer.
Rätselhaft! Es war genau das Wetter, bei dem ich schon so oft Dorsche gefangen hatte, und doch ...! Irgendetwas musste heute anders sein als sonst. Mein Blick wanderte umher, streifte über das Land, das Wasser und hinaus aufs Meer. Ich war sehr überrascht, als ich eine dunkle Wand sah, die sich mit großer Geschwindigkeit näherte. Ich stellte die Rute weg und griff zum Fernglas. Eine Nebelwand kroch über das Wasser, und es würde nicht lange dauern, bis sie mich erreicht hatte.
Seenebel, kalt und schnell, ein zäher Brei aus undurchdringlichem Grau waberte über das Meer. Im Nu hatte er mich und das Fahrzeug verschluckt und rings herum herrschte trübes Zwielicht. Egal wohin das Auge schaute, der Blick verlor sich nach wenigen Metern im Nichts. Ich machte mir nicht viel daraus und nahm wieder die Angelrute zur Hand. Um Fische zu fangen, bedurfte es keiner klaren Rundumsicht. Mich fröstelte jedoch, als ich erneut an die Bordwandung des Gleiters trat, um die Angel auszuwerfen. Im Nebel sanken die Temperaturen erfahrungsgemäß immer ein wenig ab, aber diesmal griff ich doch lieber zur Jacke und zog den Magnetverschluss bis an das Kinn hoch. Selbst die Finger wurden klamm und ich streifte ein Paar Handschuhe über. Noch bevor ich zur Rute greifen konnte, vernahm ich leise Geräusche aus dem Nebel. Ich verhielt mich ruhig, um besser hören zu können, was dort vor sich ging. Leises Knarren, wie von Seilen, die auf Holz scheuern, drang gedämpft herüber, wurde jedoch ständig lauter. Das Schlagen eines schweren, im leichten Wind killenden Segels ließ ahnen, dass sich dort draußen ein größeres Segelschiff näherte. Ich betätigte den Schalter des akustischen Nebelwarners und gab die vorgeschriebenen Warnsignale. Durchdringend tönte die elektronische Hupe in den Nebel hinaus, jedoch schien es nicht so, dass irgendjemand sie dort gehört hatte. Außer den lauter werdenden Geräuschen blieb alles ruhig. Wieder tönte das Horn, und auch diesmal reagierte niemand auf die Signale.
Der Nebel schien sich zu lichten, denn es wurde heller. Für einen Augenblick riss der Dunst auf und ich erkannte in einiger Entfernung ein vorüber ziehendes großes Boot, das in seiner ganzen Erscheinung so gar nicht in die heutige Zeit passen wollte. Das aus groben Holzplanken gezimmerte Boot musste an die fünfzehn Meter lang sein und besaß einen mächtigen Mast, an dem ein Rahsegel lose herabhing. Die schwache Brise vermochte es kaum zu blähen. Es erschien mir genauso fremdartig wie die Männer auf seinem Deck, die angestrengt in den Nebel hinaus lauschten. Verwegene, wild aussehende Kerle, gekleidet in lederne Hosen und Felljacken, einige trugen sogar ein Kettenhemd und einen eisernen Helm. Sie hielten Äxte und Schilde in den Händen, manche waren mit starken Bogen und Pfeilen bewaffnet.
Ich hastete in die Fahrerkanzel und schaute auf den Bildschirm der elektronischen Navigation. Meine Finger flogen über die Tasten und schalteten das Radar ein. Mit einem Blick aus dem Seitenfenster vergewisserte ich mich, dass jenes unbekannte Boot noch da war, doch zu meiner Verwunderung wurde es auf dem Ortungsschirm nicht angezeigt. Ratlos sank ich auf den Pilotensitz, ordnete meine Gedanken. Wer hier an der Ostsee wohnte, noch dazu an der Grenze der ehemaligen Staaten Deutschland und Dänemark, kam nicht umhin, sich mit deren Geschichte zu befassen. Ich hingegen fühlte eine solch starke Verbundenheit mit dem Land und seiner Geschichte, dass ich sogar das Segeln erlernt hatte und mit den Bräuchen und Riten der alten Wikinger vertraut war, die hier vor unsagbar langer Zeit Handel trieben und Kriege führten.
"Wikinger - Kampfszene"
Ich kehrte zurück auf die offene Heckfläche meines Gleiters und schaute erneut hinüber zu den Fremden. Ich erkannte die typische hochgezogene Stevenform des in Klinkerbauweise ausgeführten Schiffes. Es musste ein nordisches Boot sein.
Gedämpfte Anweisungen in einer kehligen Sprache ließen einen unwirklichen Eindruck entstehen. Da ich des dänischen Idioms dieser Gegend mächtig war, erkannte ich einzelne Worte wieder. Es konnte sich also nur um die sehr alte, nordische Sprache, das "Nordisk Tunga" handeln, von dem ich damals in der Schule gehört hatte.. Es war die nordische Muttersprache, aus der sich später alle skandinavischen Sprachen entwickelt hatten.
Ich fuhr aus meinen Überlegungen auf, als aus einer anderen Richtung laute Rufe sowie das schnelle Schlagen von Ruderblättern im Wasser ertönten. Wie aus dem Nichts flog ein langes und schlankes Schemen aus dem Nebel heran und nahm Kurs auf das erste, behäbigere Boot, bei dem es sich nur um einen Knorren, ein Handelsschiff der alten Wikinger handeln konnte. So tief, wie es im Wasser lag, war es voll beladen mit Waren, die man auf der Handelsfahrt weit im Osten eingetauscht haben mochte. Vielleicht kam es sogar aus dem damaligen Byzanz, wo die Händler orientalische Kostbarkeiten erstanden hatten.
War das der Grund für den Angriff? Wikinger machten keinen Unterschied zwischen Fremden oder eigenen Leuten. Sie kannten nur den Gegensatz von Arm und Reich, den sie gerne auszugleichen versuchten. Es bestand kein Zweifel, dass der Knorren hier auf ein Kriegsschiff der Wikinger traf, welches mit einer Übermacht an Männern in voller Waffenmontur eine tödliche Bedrohung war. Angst einflößend thronte der geschnitzte Drachenkopf auf dem Bugsteven des herannahenden Bootes.
Atemlos stand ich auf der Ladefläche des Gleiters, starrte mit brennenden Augen hinaus und konnte nicht glauben, was ich dort sah. Das Langboot schoss heran und war im Nu neben den Händlern, deren Bogenschützen einen Pfeil nach dem anderen von der Sehne jagten. Schreiend brachen die Krieger zusammen, als die spitzen Geschosse in ihre Körper einschlugen, einige kippten über Bord und versanken gurgelnd im Wasser der Ostsee. Dann waren sich die Schiffe zu nah, um noch die Bogen erfolgreich einsetzen zu können. Enterhaken flogen von der "Snekke" herüber und bohrten sich in das hölzerne Dollbord der Reling. Mit mächtigen Sätzen sprangen die Kämpfer des Langbootes auf das Handelsschiff hinüber, wo die Händler sie mit wuchtigen Axtschlägen und Schwerthieben empfingen. Eine Weile waren die Angreifer in der Übermacht, doch die Händler wehrten sich mit dem Mute der Verzweiflung und fügten ihren Widersachern schwere Verluste zu. Dabei erwiesen sich die Männer, die schwere Streitäxte führten, als klar im Vorteil. Mit mächtigen Hieben drangen sie auf die Gegner ein, schlugen die Klingen tief in deren Körper. Schwerter wurden geschwungen und trennten Arme vom Rumpf, Köpfe von den Schultern. Ein Blutbad von unvorstellbarer Grausamkeit. Noch nie hatte ich Ähnliches gesehen.
Voller Panik betätigte ich das Nebelhorn, wollte mit seinem durchdringenden Ton den Kampflärm übertönen und den Männern dort drüben zeigen, dass ihnen jemand bei ihrem entsetzlichen Tun zuschaute. Ich wollte, dass sie aufhörten, sich gegenseitig niederzumetzeln. Ein lang gezogener, qualvoller Schrei mischte sich in den Ton der elektrischen Fanfare, es war mein eigener. Ich winkte mit meinen Armen, bis sie lahm wurden, doch niemand beachtete mich. In mir regte sich ein Verdacht. War es möglich, dass mich die Männer auf den Wikingerbooten gar nicht sehen konnten?
Fassungslos und mit Tränen der Verzweiflung, die mir über das Gesicht liefen, sank ich auf einen der Sitze. Meine Gedanken überschlugen sich. War es real, oder träumte ich? War das hier die Wirklichkeit, und wenn ja, welche? Die von heute oder eine frühere? Der Gedanke, dass das, was ich dort drüben sah, womöglich gar nicht jetzt, in diesem Moment geschah, ließ mich ein wenig ruhiger werden. Aber was war das hier? Etwas, dass schon vor langer Zeit an diesem Ort geschah? Fast schien es mir, als sähe ich eine Art Luftspiegelung, nur hier nicht von einem Ort zum anderen, sondern aus einer vergangenen Zeit ins Heute.
Ich wusste es nicht, fand keine Erklärung für das, was ich sah. Drüben auf den beiden Booten wurde der Kampflärm geringer, ja schließlich kehrte sogar fast Stille ein. Es waren kaum noch Männer am Leben, und die wenigen, die sich noch bewegten, waren schwer verletzt und grausam verstümmelt. Rauch stieg auf, vermutlich hatte jemand die Feuerschale umgestoßen und die glühenden Kohlen fanden jetzt genügend Nahrung, um lodernde Flammen zu entfachen. Zwei Männer standen noch schwankend auf den Füßen, und während sich die Schwertklinge des einen in die Brust des anderen bohrte, spaltete dessen Axt den Schädel seines Feindes.
Dann war es ruhig. Totenstille umgab mich, kein Laut war mehr zu hören. Nur das Prasseln der emporzüngelnden Flammen drang noch herüber. Die Boote trieben davon, ineinander verkeilt und brennend, dem Untergang preisgegeben. Das Feuer an Bord würde beide Schiffe vernichten und alle Spuren des Kampfes beseitigen. Was übrig blieb, würde für immer und alle Zeiten auf den Grund der Ostsee sinken. Für alle Zeiten?
Ich stand an der Bordwand meines Gleiters und starrte ins Leere. Ich spürte keine Kälte mehr, obwohl mein Körper zitterte. Ich sah nicht, wie der Nebel sich verzog und die Sicht wieder klar wurde. Ich blickte hinaus auf die See, die ich nicht einmal wahrnahm. Stumpf brütete ich vor mich hin. Meine Empfindungen waren gelähmt, mein Verstand weigerte sich, das Erlebte zu begreifen. Benommen sank ich auf die Sitzpolster und versuchte, in das Jetzt und Heute zurückzufinden.
Weshalb war ich hergekommen? Was wollte ich eigentlich hier? Urinstinkte befriedigen, Jagen, Fischen. Was ich stattdessen erlebt hatte, weckte eine tiefe Neugier in mir. Ich war sicher, dass man mich für Verrückt erklären würde, wenn ich von diesem Ereignis erzählte. Zweifelte ich nicht schon selbst am Wahrheitsgehalt dieses Erlebnisses? Mein Gefühl sagte mir, dass ich am Anfang einer spannenden Suche stand. Ich konnte alles ignorieren, das Erlebte verdrängen. Oder der Sache auf den Grund gehen und Nachforschungen darüber anstellen, was es mit diesem Überfall damals auf sich hatte, warum dieses Ereignis ausgerechnet mir zuteil wurde.
Mir war noch nicht klar, wie ich mich entscheiden würde. Wo sollte ich ansetzen? Wo meine Suche beginnen? Mein Unterbewusstsein nahm mir diese Entscheidung ab. Wohin konnte man sich wenden, wenn man Fragen zu längst vergangenen Geschehnissen hatte? Tief in mir wusste ich die Antwort und begann, das Angelgerät zu verstauen. Ich setzte mich in den Pilotensitz des Gleiters und programmierte mein Ziel, das Landesmuseum Schleswig in Haithabu. Entspannt lehnte ich mich zurück, während das Summen der Feldgeneratoren lauter wurde und das Fahrzeug an Höhe gewann. Wenn jemand meine Fragen beantworten könnte, dann würde ich denjenigen mit Sicherheit dort finden, an dem alten Handelsplatz der Nordmänner. Der Gleiter schwenkte herum und ging auf Kurs.
Alle Rechte vorbehalten - Claus Beese 2009
Der Bremer Claus Beese hat eine ganze Reihe von Büchern verfasst.
Überschrift: "Angelspaß - Bootsspaß - Lesespaß"
Seine Homepage: www.claus-beese.de
Aus der Geschichtensammlung "Wenn die Biiken brennen".
Mit freundlicher Genehmigung des Verlag71 aus Plön.
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