- Ellen Scheel -
Der Zauberer aus der Probstei
Vor langer Zeit lebte in der schönen Probstei der Bauernjunge Hannes. Als mittlerer Sohn hatte er Pech. Denn das Probsteier Erbrecht sah vor, dass der jeweils jüngste Sohn den elterlichen Hof erbt. Also hatte er zwei Möglichkeiten: entweder er arbeitete als Knecht auf dem eigenen Hof, oder er suchte sich einen anderen Beruf.
Arbeitsamt, Berufsberatung, Schüler-Praktika … das gab es damals noch nicht – wozu auch. Also konnte sich Hannes mit seinen 14 Jahren ganz alleine überlegen, was er nun werden wollte. Zum Glück hatte er Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, das machte vieles einfacher.
Als Kind war er mit seinem Vater in Lübeck gewesen und hatte dort die stolzen Schiffe der Hanse gesehen. Viele seiner enterbten Leidensgenossen heuerten auf diesen schwimmenden Warenlagern als Matrosen an. Die Hanse des 14. Jahrhunderts war eine aufstrebende Wirtschaftsmacht – Hände, die zupacken können, wurden immer gebraucht.
Doch Hannes hatte anderes im Sinn als die bisweilen ungemütliche Seefahrt. Er wollte diese Schiffe, die ihm riesig erschienen, selber bauen können. Also entschied er sich, entweder Zimmermann oder Schiffbauer zu werden.
Der Zufall wollte es, dass seine Mutter aus Bremen kam. Sie hatte dort noch einen Bruder, der eine Werft besaß, und bei diesem konnte Hannes in die Lehre gehen.
Zeitig mit dem nächsten Frühjahr ging es los. Hannes schnürte sein Bündel, legte seine besten Beinkleider an und machte sich auf den Weg nach Bremen.
Doch dort sollte er nie ankommen.
Die ersten Tage seiner Reise vergingen, und außer ein paar Blasen an den Füßen geschah nichts aufregendes. Er kam zügig voran, aber trotzdem war er etwas vom Weg abgekommen. Plötzlich stand er vor einem See, der fast so groß war wie ein Meer.
Die Sonne schien fleißig an diesem Vormittag, und der junge Wandersmann brauchte eine Pause. Er wählte zur Rast einen schönen Platz mit Blick auf das Wasser, an dem Libellen und Wasserläufer friedlich spielten. Plötzlich sprang eine kleine Forelle aus dem Wasser und landete unsanft am Seeufer.
"Hey kleine Maus" rief Hannes, "Bist Du lebensmüde? Oder einfach nur tollpatschig?" Der Junge erhob sich, stieß sich sehr schmerzhaft den kleinen Zeh an einem spitzen Stein, und warf dennoch das Fischlein wieder in sein nasses Element zurück. Nun, müde von dem langen Weg schlief er am Ufer ein. Er träumte, in Farbe, von einer wunderschönen Stadt tief unten im Meer. Und als er erwachte, dachte er nur: "Diese Stadt würde ich gern einmal besuchen, aber ... Träume sind Schäume".
Erholt setzte er seinen Weg fort, und als er eine Brücke überqueren wollte, sah er einen Storch, der sich in einem Fischernetz verfangen hatte. Von alleine kam er nicht mehr frei. Hannes überlegte nicht lange: "Hallo Meister Adebar, hab keine Angst, ich helfe dir". Raus aus der Kleidung und ab in das erfrischend kühle Wasser.
Der Storch, nicht amüsiert, stieß ihn ein paar mal schmerzhaft mit seinem Schnabel in den Oberkörper, bevor er begriff, dass Hannes ihn nur befreien wollte. Wieder an Land sah Hannes dem fliehenden Storch hinterher. Ein stolzer Vogel.
Sein Weg führte ihn nun durch einen kleinen Wald … da hörte er ein jämmerliches Jaulen. Eine junge Wildkatze saß auf einem Baum und kam nicht mehr herunter.
"Immer diese jungen, übermütigen Wilden" dachte Hannes. Er legte sein Bündel ab und kletterte auf den Baum, um die Katze zu retten … Klar, dass die sich nicht einfach anfassen ließ. Sie fauchte und kratzte in Panik vor dem großen Menschen.
Hannes blieb cool, er kannte dieses Verhalten. So gingen seine Schwestern zuhause auch oft mit ihm um. Schnell griff er nach dem Tier und sprang mit ihm vom Baum. Den Aufschlag merkte er schmerzhaft am ganzen Körper. Die Katze lief sofort davon, und er sah sie nie wieder.
Es wurde Abend, als der zerschundene "Retter von Tieren in Not" bemerkte, dass er sich verlaufen hatte. Diesen Platz kannte er vom heutigen Mittag. "Ach, egal" sprach er zu sich selbst "Zeit habe ich ja genug." Und so schlug er sein Lager auf. Die im Wald gesammelten Beeren schmeckten süß, und er freute sich über den prächtigen Sonnenuntergang. Schnell war er eingeschlafen, und im Traum erschien ihm der Wassermann aus der Stadt im Meer.
"Guten Abend, junger Mann" sprach dieser Hannes an. "Mein Name ist Okko, und ich bin der erste Zauberer meiner Gilde. Kurzum, es geht um folgendes: Alle hundert Jahre bilde ich einen jungen Menschen zum Zauberer aus. Dich habe ich ohne dein Wissen den ganzen Tag beobachtet, und du hast den Einstellungstest mit Bravour bestanden. Dich hätte ich gern als Lehrling, weil Du ein gutes Herz hast. Es wird Dir an nichts fehlen, und Du wirst ein angesehener Einwohner der Seestadt werden, die Du aus deinem Mittagstraum kennst. Dies ist ein einmaliges Angebot!"
Hannes überlegte kurz. Die Ausstrahlung, die von Meister Okko, ausging beeindruckte ihn sehr. Neugierig wie er war, sagte er dann nicht "Nein". Diese Ausbildung würde er bestimmt nicht bereuen.
Er sollte recht behalten. In sechs Jahren entwickelte sich der kleine, schmächtige Bauernjunge zu einem stattlichen, gebildeten und gutaussehenden jungen Mann. Und er durfte sich Meister der Zauberkünste nennen.
Wieder einmal kam der Frühling ins Land. Hannes fragte sich oft, wie es seinen Lieben zuhause ergehen würde, und er wurde mit jedem Tag trauriger. Er hatte Heimweh.
Meister Okko bemerkte seinen Kummer und sagte: "Hannes, ich weiss, was in dir vorgeht. Ich denke, du solltest einen längeren Urlaub machen und deine Heimat besuchen. Für deine guten Dienste schenke ich dir mein bestes Pferd Sturm. Es wird dich beschützen, und es trägt dich schneller als der Wind an jeden Zielort deiner Wahl. Dazu bekommst Du eine Geldbörse, die niemals ganz leer wird. Dein Platz im Rat der Seestadt bleibt dir für immer erhalten. Falls Du zurückkommen möchtest, stehen dir alle Türen offen".
Das ließ Hannes sich nicht zweimal sagen, und er fing sofort mit dem Packen an.
Bei Sonnenaufgang ging es in seinem schönsten Gewand los, und Meister Okko hatte nicht zuviel versprochen. In zwei Stunden waren Reiter und Pferd bereits an der Grenze zu Schleswig-Holstein und gar zehn Minuten später in Lütjenburg. Oh, was für eine Freude … Hannes Mutter hörte gar nicht mehr auf, ihn zu umarmen und zu küssen. Sein Vater weinte und klopfte ihm ständig auf die Schultern. Die Geschwister (inzwischen alle erwachsen) tanzten um die drei herum und jubelten, dass sie ihren verloren gegangenen Bruder wieder hatten. Ein Feiertag.
Hannes Vater lies es sich nicht nehmen, seine beste Sau zu schlachten, und alle Verwandten und Bekannten zu einem Fest einzuladen. Bis in die Morgenstunden wurde gefeiert und gelacht.
So, werdet ihr denken … und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende … Aber so war es nicht.
Es wurde Sommer. Hannes hatte sich mit Hilfe seiner Neffen ein Baumhaus gebaut. Dort lebte er, dank seines wohl gefüllten Geldbeutels, in den Tag hinein. Er liebte die Natur und die Menschen, doch manchmal war er sehr allein … und dann wünschte er sich eine Freundin.
Es geschah an einem heißen Augusttag. Hannes lag im hohen Gras und gönnte sich ein Vormittagsschläfchen. Da zupfte ihn ein junges, hübsches Mädchen am Arm und sagte: "Mein Name ist Undine, ich bin eine Nixe vom See, und wir haben ein Problem. Meister Okko hat mich geschickt, dein Urlaub ist vorbei.".
Oha. Hannes war sofort hellwach und fragte: "Was ist denn los, wie kann ich helfen?" Undine setzte sich neben ihn (ihr blondes, langes Haar wehte im Wind) und begann zu erzählen: "Es betrifft die Turmhügelburg, hier ganz in der Nähe. Meister Okko sieht schwarze Wolken über ihr. Er bittet dich, dort nach dem Rechten zu sehen."
"Ja, ich kenne diesen Ort. Wir haben dort vor einer Woche Waren verkauft, aber mir ist nichts besonderes aufgefallen. Nun gut, wir reiten gleich hin und schauen uns einmal genauer um."
Gesagt, getan.
Undine und Hannes durchquerten das Burgtor. Es war alles friedlich und sinnig. Zu ruhig für den Geschmack des Magiers. Wo waren die lärmenden, spielenden Kinder? Keiner kam und bestaunte ihn. Lag es vielleicht an der Wärme des Sommers? Der Burggraf kam auf die beiden zu und begrüßte sie freundlich. "Oh, Hannes gut dass du da bist. Ich hörte, Du bist ein ausgebildeter Zauberer. Wir haben hier ein großes Rattenproblem. Seit ein paar Tagen verschwinden unsere Nahrungsmittel. Bitte hilf uns."
"Klar" sagte Hannes. "Gebt mir eine Hütte mit Feuerstelle, groß genug für mich und meine Frau Undine." Das war eine kleine Notlüge von ihm … denn Undine hätte ihn nicht allein gelassen, und so musste er sie als seine Frau vorstellen. Alles andere wäre unschicklich.
Hannes bekam was er verlangte, und er begann sofort mit der Herstellung seiner Rattenbonbons. Undine verstand es nicht, aber der Trick ging so: Jeder Zauberer kannte ein Rezept für Rattengift, das war nichts besonderes. Aber Hannes machte aus der Plagerjagd gerne eine Show. Seine Bonbons waren mit einem Leuchtmittel gefüllt. Keine Ratte konnte ihnen widerstehen, und einmal im Bauch der Tiere begannen diese im Dunkeln hell zu leuchten.
Er brauchte dann nur noch auf seiner Flöte zu spielen, und die Ratten folgten ihm als Leuchtschlange aus der Stadt hinaus. Ein unvergessliches Schauspiel für alle Dorfbewohner, das ihm viel Bewunderung einbrachte. Und dazu einen Haufen Trinkgeld.
Nun, die fertigen Bonbons trockneten am besten am offenen Fenster, und in der Wartezeit zeigte er seiner hübschen Begleitung die Gebäude und das Gelände der Burg. Spät am Nachmittag kamen sie gutgelaunt zurück. Hannes war in Eile. Die Köder mussten ja noch verteilt werden. Nur - wo waren diese? Die Fensterbank war leer.
Die Suche blieb erfolglos, und Hannes war ratlos. Es war schon zu spät, um neue Bonbons zu kochen … und so gingen sie schlafen.
Mitten in der Nacht zog Undine wieder einmal am Arm von Hannes. "He, das musst Du Dir ansehen. Steh auf!"
Hannes tat, was Undine von ihm verlangte, und er traute seinen Augen kaum. Die Kinder gingen mit Säcken beladen aus dem Stadttor, und jedes leuchtete wie ein Stern am Nachthimmel. Unglaublich, aber wahr.
"Aha, das sind diesmal aber große Ratten", rief Hannes. "Dann wollen wir mal sehen, wohin sie mit ihrem Diebesgut gehen. Schnell hinterher!"
Die Verfolgung endete im angrenzenden Wäldchen. Waldhexe Gundel war es, die das Diebesgut an sich nahm. In diesem Jahr war sie die Gastgeberin des alljährlichen Hexentreffens. Sie hatte das Wasser im Turmbrunnen vergiftet und die Kinder damit zu unfreiwilligen Dieben gemacht. Nur die besten Speisen sollten auf den Gästetisch gelangen. Und sie wollte mehr als nur Bonbons! Ein Lieblingsgericht der Hexen waren Hot Dogs mit Kinderwurst und ordentlich Senf. Das war Tradition, und Hannes wusste das.
Er verlor keine Worte, er handelte sofort. Ein Zaubertrank, gestärkt durch einen Zauberspruch, gegen die Hexe geworfen, und schwupp! Hexe Gundel verwandelte sich in eine Distel. Kurz und schmerzlos.
Die Kinder waren sofort erlöst und gerettet. Sie entschuldigten sich für ihren Diebstahl … auch den der Bonbons. Hannes war der Held der Nacht.
… und Undine? Sie blieb in einem Weiher in der Nähe und umwarb Hannes mit allen Mitteln, die ihr zu Verfügung standen. Als Nixe besaß sie einen wunderschönen Körper, aber keine Seele.
Nur durch die Heirat mit einem Menschen würde sie eine erhalten und lieben können. Hannes war ihr Prinz Charming, und nach einem Jahr läuteten für die beiden die Hochzeitsglocken ("Da wird die Sau geschlacht ..."). Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende in Lütjenburg oder in der Stadt unter dem Meer.
… und die Moral von der Geschicht:
Diebstahl lohnt sich nicht.
Und wenn sie nicht gestorben sind …
Photos
1. In der Probstei
2. Kraweel "Lisa von Lübeck"
3. Wasserläufer in der Salzau
Heiligengeist-Kirche
4. Ein Loch in einer alten Kaimauer. Kieler Förde
5. Eine Regenwolke im Kreis Plön
6. In einer Räucherkammer in der Probstei
7. Der Schönberger Strand
8. Undine. Gemälde von John William Waterhouse. Öl auf Leinwand, 1872
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Diese Geschichte stammt aus dem Buch
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Ein herumgeisternder Kapitän aus Friesland, ein übermütiges Sternchen auf seiner Reise durchs All, ein Zauberer, der eigentlich keiner werden wollte, eine Königin, die eigentlich keine ist, ein Schwein im Ruhestand, dessen Heimat bedroht ist, weil Meeresgott Neptun einen unkontrollierten Wutanfall hatte ... eine Menge skurriler Gestalten bewegen sich durch diese modernen Märchen.
Dabei geht es in rasantem Tempo durch alle möglichen Zeiten und Schauplätze: Wir besuchen Neptuns Reich, eine einfache Firmenkantine oder geheime Ritualplätze längst verstorbener Wesen. Oder wir befinden uns zwischen randalierenden Geistern verstorbener Seeleute auf einem Campingplatz, bei einem wilden Flugrennen feierlustiger Hexen, oder auf einer verwunschenen Burg im hohen Norden ... Oder im Second Hand Laden, gleich um die Ecke.
13 moderne Märchen, zum Schmunzeln und mit augenzwinkernder Moral.