Virginia Water


Hujeland

Von Ellen Scheel

(Für Jolante und Beata, zwei Drittel des Hujevorstands)


Es lebte einmal vor langer, langer Zeit ein Zauberer. Sein Name war Herbs. Gut behütet im Naturschutzgebiet Zauberschule, musste er sich nie Sorgen oder Gedanken um seine Zukunft machen. Er gehörte zu den 3 Prozent der Bevölkerung, die mit einem Zauber-Gen geboren wurden. Dieses Gen ermöglichte Eingriffe in die Natur (rote Tomaten waren plötzlich lila) und die Elemente (Kohle wurde mit einem Fingerschnipp zu reinen Diamanten).

Oh, werdet ihr jetzt denken, so ein Gen hätte ich auch sehr gerne, damit könnte ich viele gute Taten vollbringen ... Ja, ja, Theorie und Praxis. Es gab nämlich zwei Seiten der Medaille. Herbs hat nie eine richtige Familie gehabt (Babies mit dem Zauber-Gen wurden in die Zauberschule verschleppt). Immer stand er unter Kontrolle eines Vormunds (Zauberer waren einfach zu einzigartig, um verloren zu gehen). Eigene Entscheidungen traf er nur im Deutschunterricht, wenn er Erörterungen schrieb ... und dann bekam er dafür meistens eine fünf.

Na gut, er wollte ja auch kein Richter werden ... sondern er musste Zauberer sein (Punkt). Er war ein so kostbarer Schüler, dass es ihm manchmal nicht einmal erlaubt war (bei schlechtem Wetter) im Dorf private Einkäufe zu erledigen (die Erkältungsgefahr war dann zu groß) oder selbständig zu antworten (es könnte dann zu Schlägereien kommen). Der vollkommene goldene Käfig. Armer Herbs.

Nun, Gedanken kann man nicht kontrollieren, und so verbrachte Herbs seine Tage meist mit Schweigen ... wenn die anderen Zauberer gemeinsam Malbücher ausfüllten oder zum Fußball gingen, spielte Herbs am liebsten mit sich selber Schach und naschte dabei Marzipan. Das machte sich selbstverständlich in seiner Kleidergröße bemerkbar. Konfektionsgröße XL war manchmal noch zu klein. Das störte jedoch keinen, denn Herbs würde nie ein normales Leben führen können, und er kannte auch keinen anderen Ort als die Zauberschule, und da wurde er sowieso respektiert. Es gab in diesem Land keine weiblichen Zauberer, denn das Gen ging einher mit der Bluterkrankheit. Jedes Mädchen starb spätestens mit erreichen der Pubertät einen nicht zu verhindernden, qualvollen Tod. (Furchtbar, aber so war es).


Zahnputzbecher

Ein nebliger Sommerabend begann und die Sterne wollten noch nicht so richtig funkeln, da traf ein Bote des Königs in der Zauberschule ein, und alle wussten sofort, dass etwas furchtbares geschehen war (der gute Herrscher des Landes erinnerte sich nur an die Zauberer, wenn er Probleme hatte. Das kommt uns allen bekannt vor ... gell). Der König bat um Hilfe, seine Tochter Bea sei in einen tiefen Schlaf gefallen, und seitdem fiel ein dauernder Nieselregen auf das Königreich. Die gesamte Ernte eines Jahres sei in Gefahr und niemand hatte eine Idee, wie die Wassermassen gestoppt werden können. Hilfe, Hilfe große Not!

Eine Besprechung aller Zauberer wurde angesetzt, und jeder gab sein Bestes, um eine Lösung für dieses Problem zu finden (... die Schnittchen waren mit Lachs und Krabbensalat belegt). Nun, alle waren sich einig das ein Zauberer persönlich an den Hof des Königs gehen sollte, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu verschaffen um dann nach Absprache handeln zu können. Aber wer sollte gehen? Freiwillige vor, und so kam es, dass ausgerechnet Herbs seine Hand hob (zwar nur um eine Fliege zu vertreiben, aber egal). Alle Zauberer waren froh, dass es einen Freiwilligen gab und sie nicht selber gehen mussten, und so wurde Herbs auf Dienstreise geschickt.

Ein Zauberer wie Herbs reist natürlich nicht wie ein Bote zu Pferd, sondern er benutzt einen Windpfeil. Oh, was mag das denn sein? Tja, das ist eine Art einsitziges Segelflugzeug. Leicht zu bedienen und durch Zauberkraft zu Punktlandungen fähig, war es das Lieblingstransportmittel der Zauberer. Optisch ein richtiger Hingucker für das gemeine Volk ... und in diesem Windpfeil steuerte Herbs nun auf die Burg des Königs zu. Er parkte direkt auf dem aufgeweichten Burgplatz, brachte sein "Zauberer im Einsatz"-Schild an und marschierte mit seinem Gepäck und bestaunt von den Eingeborenen unverzüglich in Richtung Thronsaal, um sich dort zu melden. Der König erwartete ihn schon und freute sich, dass die Zauberer ihn nicht im Stich ließen.

Herbs, erschöpft von der langen Reise, versprach dem König alles was in seiner Macht steht zu tun um seiner Tochter zu helfen, und der König sicherte ihm alle Hilfsmittel und eine beträchtliche Belohnung zu, wenn er erfolgreich wäre, wenn nicht würde der Kopf rollen. (Dass er eigentlich nur Bericht erstatten sollte, verschwieg Herbs taktvoll.) Perfekt.
Sein Zimmer mit Seeblick versprach einen tollen Aufenthalt und zum ersten Mal in seinem Leben war Herbs wirklich frei … er schrieb nur noch ein paar Zeilen in sein Tagebuch, und schon fielen ihm die Augen zu. Gute Nacht, lieber Herbs.


November

Am nächsten Morgen erwachte er ausgeruht und unternehmungslustig. Erstmal Frühstück im Bett, dann war er bereit die Prinzessin zu sehen. Er war ein wenig aufgeregt, als er das Zimmer von Bea betrat, und sofort kam ihm ein muffiger Geruch entgegen. Die Prinzessin schlief nun schon eine Woche, und seitdem wurde dort nicht mehr gelüftet. Puh, gruselig, Herbs öffnete erst einmal die Fenster. Dann untersuchte er sofort (natürlich unter den wachsamen Augen ihrer Zofen) das junge Mädchen. Keine Verletzung oder etwas Auffälliges war an ihr zu entdecken. Herje, warum erwachte sie nicht aus ihrem tiefen Schlaf? Viele Krankheiten oder Gifte gingen ihm durch den Kopf, aber nichts passte so richtig zu ihrem Krankheitsbild.

Na gut, erst einmal Mittagessen, den König treffen, und dann an Ort und Stelle nachdenken. Vielleicht hatte er irgendetwas übersehen. Er grübelte den ganzen Nachmittag und am Abend saß er immer noch am Bett der Prinzessin. Die rettende Idee war ihm noch nicht eingefallen und so begann er zu singen. Lieder von Piraten, fernen Ländern, Zauberwesen, Glück und Unglück und es machte ihm Spaß, obwohl seine Stimme nicht die schönste war ("Krähen sind nun einmal keine Singvögel!" war sein Motto).

Die Prinzessin schlief weiter und Herbs wurde langsam sehr müde. Das letzte Lied das er noch kannte war das von der hoffnungslosen Liebe von Sonne und Mond. Langsam, vor sich hin singend, schlief er selber dabei ein ... und plötzlich konnte er die Prinzessin in seinem Traum vergnügt und lachend in seinem inneren Auge sehen. "Hallo Herbs" sagte sie, "schön dich zu sehen, und danke für die tollen Lieder die du mir gekrächzt hast".

Der total verwirrte junge Mann wollte seinen Augen nicht trauen, "Warum und wieso?" viel ihm nur noch als Frage ein, aber Bea nahm ihn einfach an die Hand und zeigte ihm die Antwort: Er stand auf einem Hügel und unter ihm erstrahlte das moderne Hujeland in voller Pracht.


Alte Flasche

Hujeland – Traumland – Zufluchtsstätte – Ideenschmiede – Toleranzburg – Friedenspalast-Partymeile, Heimat, von vielen gesucht und doch nie gefunden ... und Herbs durfte es sehen. Ein größeres Geschenk konnte Bea ihm nicht machen, obwohl er immer noch nicht verstand, was passiert war. Hier die Auflösung des Rätsels: Bea war im Wald Beeren pflücken, als plötzlich die Erde unter ihr anfing zu rutschen, sie konnte sich gerade noch auf einen alten Baum retten, und als auch der umfiel stürzte sie durch das Dach eines schon lang vergessenen Labores. Hier hatte einmal ein weiser Mann Forschungen betrieben. Als dieser dann starb wurde das Labor wieder von der Natur zurückerobert. Doch nun war es an der Zeit seine Geheimnisse preiszugeben. Dass es gerade Bea traf war reiner Zufall. Gut, die süße Maus war unverletzt und sehr durstig. Dort standen Wasserflaschen auf dem Tisch, Sie öffnete eine, trank und dachte noch "komischer abgestandener Geschmack", aber egal der Durst war gelöscht und sie lief schnell nach Hause um ihrem Vater von dem Abenteuer zu erzählen. König Uwe war mit Staatsgeschäften beschäftigt und Bea ging schlafen. In der Nacht erwachte sie auf dem Dorfplatz von Huje und ihr Leben begann neu.

Huje, war der Himmel für alle vorzeitig, grausam, verstorbenen Zauberinnen und Zauberer. Jeder erhielt dort eine zweite Chance. Regiert von drei weisen Frauen (dem Hujevorstand) gab es keinerlei Anlass zu klagen. Nie wurde Jemand ausgestoßen, schikaniert oder verachtet. Probleme wurden an der Wurzel beseitigt; reden und zuhören hatte dort einen hohen Stellenwert. Manchmal dauerten Geburtstagsparties eine ganze Woche, und selbst an den Kochherden wurde getanzt und gesungen. Meistens hatten alle gute Laune, und wenn es doch einmal Streit gab, krachte und blitzte es, aber dann vertrugen sich alle wieder und sangen zusammen lustige Lieder. Liebevoll wurde dort mit den Menschen umgegangen und wer nicht bleiben wollte (z.B. alte verbiesterte Zauberer), der konnte gehen, wann und wohin er wollte, aber auch wieder zurückkehren. Hujeland eben.

Gut, aber was hatte Bea dort zu suchen? Sie besaß dieses Gen gar nicht und sie lebte noch! Tja, Hujeland war nur auf zwei Wegen zu erreichen. 1. Tod in Besitz des Gens. 2. In der Schlafphase, wenn der normale Mensch von einem Hujeland-Einwohner gerufen wird (wie in Herbs Fall). Die Flaschen auf dem Tisch des Labors, von denen Bea trank, waren gefüllt mit Wandergift (das war die dritte, künstlich erschaffene Möglichkeit). Der Wissenschaftler hatte es erfunden, weil er seine verstorbene Freundin, die er sehr, sehr vermisste, in Hujeland besuchen wollte. Er hatte es satt nur im Traum mit ihr zusammen sein zu können (... und dann auch nur, wenn sie ihn rief), sondern er wollte sie für immer und ewig. (Ach, wie schön ist das denn? Junge Liebe!) Nach jahrelanger Forschung hatte es geklappt, er konnte ohne das Gen in Hujeland leben, doch das Gift tötet (auch gering dosiert) den Körper im normalen Leben. Der weise Hujevorstand gewährte ihm das glückliche, entspannte, leichte Zusammensein mit seiner Geliebten. Das Labor verschwand im Laufe der Jahre, wie ein alter Inkatempel in der Natur, und niemand erinnerte sich mehr an die großartige Liebesgeschichte.


Heart


Tja, aber Bea's Fall war anders. Der König würde jahrelang um seine Tochter kämpfen und alles in Bewegung setzen, damit sie wieder zurück nach Hause kam. Das war dem Hujevorstand bewusst, also musste das Labor wieder unsichtbar werden und der Nieselregen begann. Ein kleiner Erdrutsch und schon wäre das Wandergift wieder verschwunden ... so war der Plan. Dass Bea (bei der Überdosis die sie genommen hatte) noch nicht nach einer Woche gestorben war, konnte keiner vorhersagen (vielleicht MHD abgelaufen?) und dass sie nun auch noch einen lebenden Zauberer ins Land holte, verschlug allen die Sprache.

Wer war dieser Zauberer eigentlich? Und warum sollte frau ihm vertrauen?. Hujeland wurde bedroht durch das Wissen von Herbs, der gerade aufwachte und Kopfweh hatte ... was würde er tun?

Tja Herbs, in Besitz eines großen Schatzes an Allgemeinwissen, ging erst einmal duschen und frühstücken. Er wusste selber nicht, was er tun sollte. Doch er hatte einen Plan. Die Bea fand er richtig klasse. Sie sollte auf keinen Fall sterben! Bilder vom gemeinsamen Glück und von eigenen spielenden Kindern schossen in seinen Kopf, wenn er an Bea dachte. Total verliebt der Herbs (wir gönnen es ihm).

Die Prinzessin hatte ihm den Ort, wo sie das Labor gefunden hatte beschrieben ... und so ging Herbs, auf der Suche nach einem Gegengift, das erste mal in seinem Leben allein durch den Regen in den dunklen Wald hinein. Er fand das Labor und alle Aufzeichnungen des Wissenschaftlers, dann sprengte er alles mit einem lauten Knall in die Luft. Huje war gerettet, Bea wurde aus ihrem Schlaf erweckt, und der Regen hörte auf ... und nun?

Als erstes gab es richtig Ärger mit Bea, sie fühlte sich richtig wohl in Hujeland und wollte es nicht verlassen! Aber sie kam darüber hinweg. Zweitens, Herbs musste nicht wieder zurück in die Zauberschule, sondern er war frei. Drittens, König Uwe schlug Herbs zum Ritter und gab ihm eine richtig tolle Ritterburg dazu. Das Geschenk fand der junge Mann super, und er begann um Bea zu werben. Plötzlich dachte er an die tägliche Rasur, lies sich Strähnchen in die Haare färben, trainierte seinen Körper und der Erfolg gab ihm recht. Bea war sehr stolz auf ihn und wurde bald seine Frau ... sie lebten viele Jahre glücklich zusammen und der Kinderwunsch wurde erfüllt. Als Königin erließ Bea ein Gesetz, das Zaubererbabies nicht mehr von den Familien getrennt wurden, und Herbs erforschte ein Heilmittel gegen die Bluterkrankheit. Alles wurde ein wenig mehr zu Hujeland.

Doch dann lief die Lebenszeit der beiden ab, und Bea war dem Tode nahe. Der schlaue Herbs hatte sich damals im Labor eine Flasche mit dem Wandergift eingesteckt (heimliche Reserve). Die Königin trank davon und erwachte wieder mitten auf dem Dorfplatz von Huje. Lange musste sie nicht auf ihren geliebten Mann warten, und so lebten sie ein neues, wunderschönes Leben zusammen. Ende gut, alles gut.


Ritter


... und die Moral von der Geschichte ist: Huje ist überall, Augen auf, dann siehst und fühlst Du es. Und sind wir nicht alle ein bisschen Huje?


alt="Ellen Scheel"


Photos
Virginia Waters - Ruine. Photoglob Zürich um 1895.
Zahnputzbecher in einem polnischen Kindergarten. Ellen Scheel 2016
Sonnenuntergang im November. Holger Krohn 2014
Eine geheimnisvolle Flasche. Holger Krohn 2010
Ein Herz steht kopf. Holger Krohn 2012
"Ritter Herbs". Mittelaltermarkt im Tierpark Arche Warder. Ellen Scheel 2016


Alle Rechte vorbehalten - (C) Ellen Scheel 2016

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