Ellen Scheel
Das gefallene Sternchen
(Für Carola)
Es lebte einmal vor gar nicht langer Zeit ein kleiner Stern, sein Name war Romi.
Die süße Romi, wie ihr Vater sie nannte, war mit Temperament gesegnet (mit sehr viel Temperament). Wenn die Sonne schlafen ging, war Romi als erster Stern am Nachthimmel zu sehen. Ihr Licht überstrahlte alle anderen Himmelskörper der Milchstraße. Fleißig, fleißig funkelte sie die ganze Nacht und war als letzter Stern am Himmel zu sehen. Viele fragten sie oft: "Wie schaffst du das nur?" Darauf kam die Antwort: "Mit ganz viel Disziplin", und ein Lachen wurde hinterhergeschickt. Dieses Lachen war wie ein Sonnenstrahl an einem Sommermorgen. Rein und klar und ohne Argwohn, und jeder musste mitlachen, und bekam gute Laune wenn er es hörte.
Die süße Romi war aber nicht immer lieb, oft hatte sie Langeweile und dann dachte sie sich sich Unfug aus. Dieser Wirbelwind war nicht mit Worten oder Strafen zu stoppen. Sie war immer auf der Suche nach neuen Dingen die Ihr das Leben erleichtern und schöner machen konnten. Je mehr sie getadelt wurde um so mehr ging sie aufmüpfig dagegen an. Und keine Macht der Welt, nicht einmal Tante Vernunft konnte sie stoppen. Aufmüpfig war sie, und gut darin, bereits bestehende Regeln zu hinterfragen. Zudem sagte sie immer ihre unverblümte Meinung (oh, oh), und das machte sie nicht zur Nummer eins in der Beliebtheitsskala des Himmelszeltes. Aber das störte Romi nicht. "Was wahr ist, sollte wahr bleiben" war ihr Motto. Na gut, mit dieser Einstellung würde sie nie zur Präsidentin des Universums gewählt werden ... aber das wollte sie ja auch gar nicht.
Nun, gähnende Langeweile machte sich am Nachthimmel breit. Die Freunde waren zur jährlichen Fortbildung, alle schwarzen Löcher waren bestaunt und es war kein Komet da, auf dessen Eisschweif Romi hätte surfen können. Sie verließ ihren Platz am Sternenhimmel um sich die Menschenwelt anzusehen. Das tat sie öfter mal, und das war normalerweise kein Problem, weil sie sich nie erwischen ließ … aber an diesem Abend schon ... denn der Orion (ein guter Freund eigentlich) war neidisch auf Romi, weil sie immer alles mit links schaffte, und er petzte die Pflichtverletzung gleich an höchster Stelle. Mutter Sonne war nun nicht mehr amüsiert. Es musste gehandelt werden, bevor noch ein Unglück passieren würde.
Ein Treffen der Sterne wurde angeordnet (wieder einmal!) und Romi musste vor Gericht. Das kannte sie schon. Normalerweise nickte sie alle Anweisungen und Erziehungsmasnahmen freundlich ab, und bei schlimmeren Vergehen weinte sie halt ein paar Kullertränchen und heuchelte Einsicht. Das war's dann. Aber diesmal nicht! Der Mann im Mond (ein alter Zauberer), war genervt von Romi's ewigen Störungen. Er hatte keine Lust mehr hinter dem Sternchen her zu räumen und alles wieder zu reparieren. Romi wurde zu einem Praktikum auf der Erde verurteilt, damit sie am eigenem Leib erfahren würde, wie gut sie es im Himmel hatte. Die Menschen würden ihr die Flausen schon austreiben und wieder für Ruhe im Universum sorgen. Ein guter Plan, fanden alle ... nur wie sollte das gehen? Tja, der Zauberer hatte die Erde verlassen, als Haithabu 1066 unserer Zeitrechnung von den Schweden zerstört wurde. Damals fand er den Mond als Altersruhesitz sehr passend. Er konnte hier Schafe züchten, und es war eine sehr ruhige Wohngegend.
Er besaß noch ein original Wikinger Outfit, und einen Sack voller Münzen (Gold, Silber, Kupfer) aus dieser schlimmen Zeit. Somit brauchte er nur noch den passenden Zauberspruch (der schnell gefunden war) und Romi stand plötzlich in einem kleinen Wald in der Nähe von Haithabu.
Allein, von allen verlassen, in einem Menschenkörper, bedeckt mit merkwürdiger Kleidung wusste sie zum ersten mal in Ihrem Leben nicht, was sie tun sollte, und sie fing an zu weinen. Es war Ostern 2015. Das jährliche Wikingertreffen fand statt und es war wieder einmal sehr nasskalt in diesem Bereich der Erde. So kam es, das die holzsammelnde Märchenerzählerin Pia die süße Romi laut schluchzend und fast schon erfroren unter einem Baum fand. "Na, so was", dachte die gute Frau, wen haben wir denn hier? Sie nahm Romi an die Hand, und sie gingen zusammen zu den warmen Feuerstellen, wo Geschichten erzählt und Lieder gesungen wurden. Das war genau das Richtige für unser süßes Sternchen. Sie kannte die ganze Menschheitsgeschichte. Viele Lieder waren ihr bekannt, denn die wurden auch im Himmel gesungen. Alles gut!, sie war zu Haus angekommen und glücklich nicht mehr allein zu sein.
Die Tage vergingen sehr schnell (ohne langweilig zu werden), und es wurde Zeit wieder in den Nachthimmel aufzusteigen.
Doch es geschah ein Unglück. Der Zauberer starb friedlich schlafend in seinem Bett (Er war wirklich schon sehr, sehr alt) und all sein Zauber verlor seine Kraft. Romi's menschliche Hülle verfiel ungesehen zu Sternenstaub und blieb mitten auf dem Dorfplatz liegen. Der Himmel war entsetzt, was sollten sie ohne den weisen Mann im Mond tun, und vor allem, wer holt das Sternchen wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz! Die Versammlung der Sterne fand keine Lösung für dieses Problem, und alle waren zutiefst traurig (Der lange Fluss der Rede mündet ins Meer der Geschwätze).
Das kleine Sternchen hatte sich während Ihres Aufenthaltes mit dem Wind angefreundet. Dieser holte sie von der Straße und ermöglichte ihr eine Weltreise der Superlative. Romi war begeistert, wie schön und vielfältig die Erde war. Nun, gerade jetzt machte sie Pause auf einer Fensterscheibe im obersten Stockwerk des UNO-Gebäudes in New York. Es war ein kalter Morgen und Romi wählte sie Form eines Eisfenstersternchens (gelernt ist halt gelernt), da kam plötzlich Merkur vorbei. Der alte, fast vergessene Götterbote wartete schon sehr sehr lange auf eine Antwort eines Briefes an die Vereinten Nationen, und er hatte sich hier in den Mühlen der Bürokratie ziemlich den Margen verdorben. Erschöpft vom Anlaufen verschiedener Abteilungen, die ihn dann zermürbend weiter schickten, wollte er nur noch nach Hause zu seiner Frau und in sein Bett.
Da fiel ihm das Sternchen auf, das an der Fensterscheibe funkelte. "Na, diese süße Maus gehört doch nicht hierher" sagte er zu sich selbst. Nun, er holte den Handstaubsauger, den er in seiner Reisetasche trug (Ein Wunsch von seiner Frau, die meinte: "Er krümelt zu viel beim Frühstück im Bett und überhaupt) heraus, und flog mit dem Sternchen Richtung Sonnenaufgang in den Himmel hinein.
Dort freuten sich alle, dass die bereits aufgegebene Romi wieder anwesend war. Sie hatte allen doch sehr gefehlt. Merkur war der Held des Tages und die liebe Sonne hatte vor Freude "Pipi in den Augen".
Alles gut! sollte man meinen, aber Romi hatte noch eine Rechnung mit dem Orion offen, und ihr könnt mir glauben, der verpetzt niemanden mehr! Tja, und nun? Wie sieht das Ende der Geschichte aus? War das alles? Selbstverständlich nicht!
Romis Teperament wird sich nie beherrschen lassen, aber sie hat dazu gelernt und ist tatsächlich erwachsener geworden. Heute ist sie Präsidentin des Sternenrates, und die Dummheiten haben nachgelassen. Sie hat sich den Mond als Zweitwohnsitz gewählt und benutzt den Zauberspruch des alten Mannes, um ab und zu die Freunde in Haithabu zu sehen, die sie nämlich nicht vergessen hat.
... und die Moral von der Geschichte ist: Manchmal wenn es wirklich nicht mehr weiter geht, und sich alles in Staub zerlegt, dann kommt aus irgendeiner unerwarteten Ecke Hilfe. Und das Problem ist gelöst.
- Ende -
Bildnachweis
Andromedagalaxie M 31. Diese Galaxie ist der unserigen am nächsten gelegen. M31 ist 2,5 Millionen Lichtjahre von uns entfernt und besteht aus etwa 1 Billion Sternen. Aufgenommen vom GALEX Orbiter. By courtesy of NASA.
Haithabu an der Schlei, das Wikingerdorf.
Die Galaxie NGC 1097, 50 Millionen Lichtjahre entfernt. By courtesy of NASA / JPL-Caltech
Alle Rechte vorbehalten - (C) by Ellen Scheel 2016
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Diese Geschichte stammt aus dem Buch
Das 13te Märchen
13 rasante Märchen zwischen
Wirklichkeit und Phantasie
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ISBN 978-3-746778-99-0 (Taschenbuch)
Ein herumgeisternder Kapitän aus Friesland, ein übermütiges Sternchen auf seiner Reise durchs All, ein Zauberer, der eigentlich keiner werden wollte, eine Königin, die eigentlich keine ist, ein Schwein im Ruhestand, dessen Heimat bedroht ist, weil Meeresgott Neptun einen unkontrollierten Wutanfall hatte ... eine Menge skurriler Gestalten bewegen sich durch diese modernen Märchen.
Dabei geht es in rasantem Tempo durch alle möglichen Zeiten und Schauplätze: Wir besuchen Neptuns Reich, eine einfache Firmenkantine oder geheime Ritualplätze längst verstorbener Wesen. Oder wir befinden uns zwischen randalierenden Geistern verstorbener Seeleute auf einem Campingplatz, bei einem wilden Flugrennen feierlustiger Hexen, oder auf einer verwunschenen Burg im hohen Norden ... Oder im Second Hand Laden, gleich um die Ecke.
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