Ostufer.Net - Songtexte und LP-Cover
Reinhard Mey
Geboren am 21. Dezember 1942 in Berlin-Wilmersdorf
Lyrics: Die bekanntesten Texte
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Wir Sind Alle Lauter Arme Würstchen Neulich bin ich wieder mal nach langen Jahren bei Mehring & Co.KG vorbeigefahren wo ich Lehrling und ein armes kleines Würstchen war seitdem hat sich allerhand geändert ist ja klar denn mein Umgang wurde seitdem etwas schicker und die Damen und Autos wurden etwas dicker man siezt mich und es spannt sich mir das Hemd überm Bauch und viel mehr Freunde als damals hab' ich auch. Und ich bin doch das alte arme kleine Würstchen unter lauter andren armen kleinen Würstchen nur die meisten davon sind für die Erkenntnis blind dass sie auch nur lauter arme kleine Würstchen sind. Wir sind alle lauter arme kleine Würstchen unter lauter andren armen kleinen Würstchen. Wenn du schlau bist mein Freund pass auf dass du nicht vergisst dass du nur ein armes kleines Würstchen bist. Staatsmann der du unsere Geschicke leitest Kinder küsst und Ehrenkompanien abschreitest. Während du von einer Wahlrede zur andern hetzt hat sich deine Sekretärin nach drüben abgesetzt. Ja das wird dich leider Kopf und Kragen kosten deine Freunde würfeln schon um deinen Posten und der treueste von allen zieht dir auch schon keck den Roten Teppich unter deinen Füssen weg. Du bist doch auch nur ein armes kleines Würstchen unter lauter andren armen kleinen Würstchen nur die meisten davon sind für die Erkenntnis blind dass sie auch nur lauter arme kleine Würstchen sind. Wir sind lauter arme kleine Würstchen unter lauter andren armen kleinen Würstchen. Wenn du schlau bist mein Freund pass auf dass du nicht vergisst dass du nur ein armes kleines Würstchen bist. Geschäftsmann mit der siegessich'ren Pose du benimmst dich hier wie eine off'ne Hose spiel' du ruhig den wilden Maxe im Büro zu Haus kneift jetzt der Gasmann deine Frau in den Po. Ahnst du sie ihm kichernd deinen Sekt eingiessen? Spürst du wie dir durchs Toupet die Hörner spriessen? Jetzt bringt sie den Gasmann erst mal richtig auf Trab und dann lesen sie zusammen den Zählerstand ab. Du bist doch auch nur ein armes kleines Würstchen ... Auch für dich mit dem stolzesten Schritt im Saale liegt irgendwo schon eine Bananenschale und wenn du drauftrittst und auf deine Nase fällst dann um so härter je mehr du dich für was Besseres hälst. Denn je majestätischer du einherschreitest desto komischer sieht's aus wenn du ausgleitest du erspar dir wenn du gegen einen Lichtmast rennst die Enttäuschung wenn du vorher schon erkennst: Du bist doch auch nur ein armes, kleines WürstchenKlagelied eines sentimentalen Programmierers
Die 11 X/13 war meine Passion; Sie war meine Liebe, mein Stolz und mein Lohn. Einst waren wir glücklich, und was uns verband, War viel mehr als nur Symbole auf magnetischem Band. Sie war eine Venus aus Drähten und Chrom; Ich war Programmierer, hatte grad mein Diplom. Ich dichtete Tabellen Für ihre Speicherzellen. Ich liebte sie platonisch, Sie liebte elektronisch. Ich hörte ihr Rattern und ihr Fiepen so gern, Und mir leuchteten ihre Lämpchen grad als wie die Stern'. Die 11 X/13 war meine Passion; Sie war meine Liebe, mein Stolz und mein Lohn. Und was in ihr vorging, das ahnte ich allein, Das heisst, ich glaubte zumindest, der einzige zu sein. Bis vorige Woche der Herr Bröselmann kam, Ein Heimlehrgangsprogrammierer vom Büro nebenan. Sie hat mich belogen, mit Bröselmann betrogen! Er hat sie gefüttert, und, was mich erschüttert, Ist, dass ich tags drauf eine Lochkarte fand, Auf der "OH DU GOETTLICHER BROESELMANN" stand. Die 11 X/13 war meine Passion; Doch es war nur Berechnung und eiskalter Hohn. Aber heut nehm' ich Rache, und dann schneid' ich ihr knapp, Hinterlistig und gemein das Stromkabel ab! Ankomme Freitag, den 13. 1969 Reinhard Mey - live 1971 Lasst sie reisen! Wenn ich sehe, wer in diesem unserem Lande regiert, opponiert und koaliert, wer hier so schmiert und intrigiert, bin ich jedesmal erschüttert und auf's Neue fasziniert, dass trotz so vieler Politiker noch so viel funktioniert! Dass das Chaos noch nicht da ist, und dass wir nicht untergeh'n; doch jetzt hab' ich endlich die Erklärung für das Phänomen: Geisler ist zu 'nem Familientreffen in den Krügerpark. Scheel besorgt für die Partei im Tessin schnell noch ein paar Mark. Möllemann fliegt nach Alaska, wo das Sitzungsgremium tagt. Albrecht muss nach Hinterösterreich zur Diplomatenjagd. Ehmke hat in Rom den schlafenden Gemeinschaftsgeist geweckt, und Schwarz-Schilling hat in Grönland ein Kabel-Pilotprojekt. Wenn ich denke, was an Bomben und Raketen bei uns liegt, wird mir schlecht, und ich hab' Angst, dass uns das um die Ohren fliegt. Kommt denn denen, die das Zeug hierherhol'n, das nie in den Sinn? Aber nein, die lächeln immer nur ganz eisern vor sich hin. Endlich weiss ich jetzt auch, warum die so sorglos sind, na klar: Wenn es hier mal losgeht, ist von denen nämlich keiner da! Wörner ist zu intimen Gesprächen in die Schweiz geeilt, während Zimmermann zum Bildungsurlaub in Neuseeland weilt. Vogel I erklärt in Washington das Haushaltsdefizit, Vogel II verteilt in Moskau einen Milliardenkredit. Strauss ermpfängt gerade einen Orden in Südafrika, und Kohl hat in Genf die Schirmherrschaft über eine Tombola! Ob schwarz, gelb, grün oder rot, sie sind gleich farblos und gleich schal. Wenn sie weg sind, merkt man ihre Abwesenheit nicht einmal. Die Moral von der Geschichte: Lasst sie reisen, denn zu Haus meiden sie keinen Skandal, lassen sie keine Panne aus! Lasst sie reisen, lasst sie sich auf uns're Kosten amüsier'n! Herzlich gern, solange sie nur nicht versuchen, zu regier'n! Stoltenberg besucht in Tokio die Einsparungskonferenz. Börner und die Grünen sind auf Klassenfahrt nach Pirmasens. Brandt rügt gnadenlos den Sozialismus an der Côte d'Azur. Schily ist zwar nicht auf Reisen, aber der rotiert dafür. Glotz spricht in La Paz vorm deutschen Kaninchenzüchterverein, Und Genscher weiht auf Gran Canaria eine Kläranlage ein. Da geht ein Bi-Ba-Butzemann in unser'm Land herum, fidibum, Da geht ein Bi-Ba-Butzemann in unser'm Land herum. Hergestellt in Berlin 1985 Die grosse Tournee '86 1987 Keine ruhige Minute Was habe ich in all den Jahren ohne dich eigentlich gemacht, als Tage noch tagelang waren, wie hab' ich sie nur rumgebracht? Ohne Spielzeug zu reparieren, ohne den Schreck der Nerven zehrt, ohne mit Dir auf allen Vieren durch's Haus zu traben als dein Pferd? Keine ruhige Minute ist seitdem mehr für mich drin. und das geht so, wie ich vermute, bis ich hundert Jahre bin. Du machst dich heut' in meinem Leben so breit, dass ich vergessen hab', was hat es eigentlich gegeben, damals als es dich noch nicht gab ? Damals glaubt' ich alles zu wissen, bis du mir die Gewissheit nahmst, Nie glaubt' ich etwas zu vermissen, bis an den Tag, an dem du kamst. Das Haus fing doch erst an zu leben, seit dein Krakeelen es durchdringt, seit Türen knall'n und Flure beben und jemand drin Laterne singt. Früher hab ich alter Banause Möbel verrückt, verstellt, gedreht, ein Haus wird doch erst ein Zuhause, wenn eine Wiege darin steht! Tiefen und Höh'n hab' ich ermessen, Ängste und Glück war'n reich beschert, das war ein leises Vorspiel dessen, was ich mit dir erleben werd' ! Denn du kommst und gibst allen Dingen eine ganz neue Dimension, und was uns nun die Jahre bringen mess' ich an dir, kleine Person! Keine ruhige Minute 1979 Tournee 1981 Starportrait 1982 Die grossen Erfolge 1983 Mein Apfelbaeumchen 1989 Lulu Ich liebe getragene Melodien, zarte Zwischentöne, klare Harmonien. Lulu liebt Rock, und Lulu liebt Roll, Lulu schert sich gar nicht ums Protokoll. Lulu mag es laut, und ich eher leis, ich mag es cool, und sie eher heiss. Lulu liebt's wild und Lulu liebt's schrill, also mag ich es halt so wie Lulu es will! Lulu liebt Bässe die knacken und knarr'n, Lulu liebe zweistimmige Booster Gitarr'n. Und ein gut abgehangenes Saxophon, Lulu liebt die Schiessbudenexplosion. Lulu Taifun und Lulu Vesuv. Lulu liebt Drive und den guten Groove. Und ich liebe Lulu, und wenn sie micht liebt, liebe ich alles das, was Lulu liebt! Ich bin ein ruhiges, gutmütges Schaf. Ich liebe des nachts meine acht Stunden Schlaf. Lulu schläft nie, und beim 12. Schlag macht sie mich munter und die Nacht zum Tag. Lulu macht micht fertig, Lulu macht mich fix, Lulu macht den Bär'n los, Lulu kennt nix. Lulu will Action, ob es dämmert oder tagt, und wenn Lulu Action will, dann ist Action angesagt! Lulu liebt Bässe die knacken . . . Ich tanz' wie eine Bratwurst, das ist wahr, und nur bei Strafandrohung oder Lebensgefahr. Lulu tanzt wie ein Ball, Lulu treibt's bunt, Lulu tanzt auf dem Tisch mit einer Rose im Mund. Lulu tanzt ohne Schuhe und mit Leidenschaft, Lulu setzt das Schwerkraftgesetz ausser Kraft. Lulu tanzt mit mir, und dann rieselt der Rost, und dann schwanken die Planken, und ab geht die Post! Lulu liebt Bässe die knacken . . . [Kinderstimme: Papsel komm ein Tänzchen machen!] Balladen 1988 Mein Apfelbaeumchen 1989 51er Kapitän Ich seh noch wie mein Vater aussteigt aus dem 6 Uhr 20 Vorortszug Mit der abgewetzten Aktenmappe und dem grauen Mantel, den er trug, jeden Abend stand ich da am Bahnhof, ich war grade neun oder zehn, Und ich war stolz, den staub'gen Siedlungsweg lang neben ihm zu gehn. Und dann musste er mir jeden Abend die immer gleiche Geschichte erzähl'n: Wie einmal alles mit uns werden würde, und da durfte kein Wort fehl'n, Und immer vor der Haustür musste er sagen: "Eines Tages wirst du sehn, Da werden wir beide hier vorfahr'n in einem schneeweissen 51er Kapitän! Und die Sitze sind aus rotem Leder und der Himmel ist wie ein Dom, Und der Lack glänzt in der Sonne, und überall funkelt Chrom. Die Motorhaube nimmt kein Ende und die Kühlerfigur blitzt, Und du glaubst, du würdest schweben, wenn du hinterm Lenkrad sitzt!" Ich hatte eine schwarze Trainingshose und mein Vater besass ein Paar Schuh', Aber wenn er so erzählte, dann fehlte nicht mehr viel dazu, Und wenn ich meine Augen schloss, dann konnte ich uns wirklich sehn: Meinen Vater und mich vor der Haustür in einem schneeweissen 51er Kapitän! Nun, es kamen and're Zeiten, es ging voran und irgendwann Kam mein Vater dann tatsächlich eines Abends mit einem Auto an: Es war ein steinalter Olympia bei dem immer der Gaszug riss, Bei dem nie die Heizung ausging, im Grunde war das ein Totalbeschiss, Meinem Vater aber war er gut genug, das war genau seine Art, An sich selber immer rumzuknausern, an uns hat er nie gespart. Mir jede Chance im Leben geben, mich einmal auf dem Treppchen zu sehn, Das war es: Der totale Luxus war sein schneeweisser 51er Kapitän. Er hat nie mehr davon gesprochen, doch ich weiss, er hat davon geträumt. Vielleicht war das so ein Symbol für eine Chance, die man versäumt, Heut würd' ich Ihm gern einen schenken, Ich weiss sogar, wo einer steht: Rotes Leder, Weisswandreifen, und sogar das Radio geht, Mein Vater ist vor ein paar Jahr'n gestorben, es hat nicht hingehauen diesmal, Nicht einmal auf seiner letzten Fahrt, da war's ein schwarzer Admiral. Aber wenn es einen Himmel geben sollte, dann werd' ich ihn endlich sehn: Denn dann holt mein Alter Herr mich ab in einem schneeweissen 51er Kapitän! Immer weiter 1994 Zwischen Zuerich und zu Haus 1995 Du bist ein Riese 1997 Leb wohl, Adieu, gute Nacht Hab' den Garderobenschlüssel steckenlassen, Im Fortgehn seh' ich noch einmal Durch die verwaisten Bühnengassen In den grossen, dunklen, leeren Saal. Vor ein paar Stunden bin ich hier gestorben Vor diesem lauernden, kauernden Tier. Ich hab's geliebt, ich hab' es umworben Und es war gut und freundlich zu mir. Jetzt brennt noch eine düstre Arbeitslampe Nach all der Scheinwerferpracht. Ich geh' noch einmal nach vorn an die Rampe, Leb wohl, adieu, gute Nacht. Merkwürd'ge Stille und verlass'ne Stühle, Die Luft ist feucht, warm und verbraucht, Menschen haben dem Saal ihre Gefühle Und ihre Wärme eingehaucht Ich habe mich angezündet und gehäutet In Kaskaden gleissenden Lichts Mit euch hat mir der Saal die Welt bedeutet, Ohne euch bedeutet er nichts. Jetzt sind dies wieder ganz profane Bretter, Gleich wird hier der Kehraus gemacht. Scherben, Papier und ein paar Blumenblätter, Leb wohl, adieu, gute Nacht Ich habe mich heute mit voller Kehle An euch betrunken und berauscht Ich habe heute ein Stück meiner Seele Für eure Liebe eingetauscht. lhr seid zurückgekehrt in euer Leben, lch kehre zurück in meins, Aus diesem Saal, wo wir noch eben So verschieden waren und doch eins. Doch einen Schritt auf so verschied'nen Wegen Haben wir zusammen gemacht Und kamen einander von ferne entgegen. Leb wohl, adieu, gute Nacht. Worte und Lieder sind nun lang verklungen, Lange verklungen der Applaus. Sie sind schon ferne Erinnerungen, Ich bin ein Fremder in dem stillen Haus lch will den Zauber nur noch einmal spüren, Und finde ihn schon nicht mehr. Der Plan für morgen hängt schon an den Türen, Ich gehöre schon nicht mehr hierher. »Beginn 20 Uhr« kann ich grad noch lesen. Ich schliess die Bühnentür ganz sacht. Heute bin ich hier glücklich gewesen. Leb wohl, adieu, gute Nacht. Immer weiter 1994 Zwischen Zuerich und zu Haus 1995 Lebenszeichen 1997 Liebe ist alles Es ist ein gutes und ein wahres und ein schönes, allumfassendes Gefühl. Es lässt sich nicht vorhersehn, lässt sich nicht erzwingen, und es passt in kein Kalkül. Es mag für einen Augenblick sein und für immer, es ist frei vom Zwang der Zeit. Es ist das Teil, es ist das ganze Universum, es ist jede Winzigkeit. Es ist die immer neue, pathetische Filmszene in ew'ger Wiederkehr. Liebe ist alles, Liebe ist mehr! Es ist das Lächeln eines Fremden auf dem Flur, wo du die Wartemarke löst. Es ist der kleine schwarze Strassenhund, der friedlich in der Mittagssonne döst. Es ist der Freund, der sich für dich um Mitternacht nochmal in seine Küche stellt und dir was bruzelt, und dem deine traurige Geschichte gar nicht auf den Wecker fällt. Und für ein Six-Pack von der Nachttankstelle stürzt er sich für dich in den Verkehr. Liebe ist alles, Liebe ist mehr! Es ist der blankgeliebte Bär, aus dem die Holzwolle dich piekt. Das altes Ruderboot, das wartend an verborg'ner Stelle liegt. Es ist das alte Haus, das knarrt und leise wispert: Weisst du noch, wie's auf dem Dachboden nach Äpfeln und nach Abenteuern roch? Die Truhe, die verschloss'ne Tür, die ausgetret'ne Stufe raunt: Komm her, komm her! Liebe ist alles, Liebe ist mehr! Jemand, der auf dem Bahnsteig wartet, im Gedränge ein Aufflackern, ein Gesicht. Die Ahnung und das Hoffen, nur ein flucht'ger Blickkontakt im fahlen Neonlicht. Es ist die Sehnsucht und das Streicheln, die Umarmung, aber auch die Wehmut schon. Und das "für immer" hingehaucht zur Zimmerdecke einer schäbigen Pension. Es ist das Bitt're und das Süsse, und es lässt dich federleicht und tränenschwer. Liebe ist alles, Liebe ist mehr! Es ist die immer neue, pathetische Filmszene in ew'ger Wiederkehr: Liebe ist alles, Liebe ist mehr! Flaschenpost 1998 Lampenfieber 1999 Lied, auf dem Grund eines Bierglases gelesen Oder: Vor mir auf dem Tisch ein Krug voller Bier Vor mir auf dem Tisch ein Krug voller Bier, eine weisse Mütze von Schaum darauf, so hab' ich es gerne, so sitz' ich oft hier und räume in meinen Gedanken auf. Und während ich zusehe, wie sich das Licht in tausend funkelnden Perlen bricht, dann denk' ich an alles und denke an nichts, an gestern und Hopfen, an morgen und Malz, an Revolutionen und Griebenschmalz. Dann kommt mir die Frage in den Sinn, weshalb ich wohl noch am Leben bin. Es kracht im Gebälk rings um mich her, in Kindergärten, und in Kirchen sogar. Und wenn ich verschont blieb, leit' ich's daraus her, das ich meistenteils in der Kneipe war. Das heisst: Hier bin ich sicher, draussen brennt's allenthalben: Daraufhin bestell' ich mir noch einen Halben. Platzte jetzt Charon zur Kneipentür rein, mitten in solche Gemütlichkeit, setzte sich zu mir im Lampenschein, gäb' mir zu verstehn: jetzt ist's an der Zeit. Damit ich's versteh', fegt er mit einem Wisch mir meinen vollen Krug Bier vom Tisch. Mit den Worten: "Auf geht's, mein Freund, über den Styx, noch vorm Morgengrauen wird übergesetzt, und schimpfen und fluchen, das hilft Dir nix!" Ich sagte: "Herr Charon, noch nicht jetzt, rationell ist das nicht, wenn Sie nur für mich fahren!" (Ich bestell' mir 'nen Halben und für Charon 'nen Klaren) "Komm'n Sie lieber nochmal in zwei bis drei Jahren, bis dann machen die Grossen 'nen neuen Krieg, damit die Opfer vom letzten nicht vergebens waren, und dann wird Ihr Kahn so voll, dass er sich biegt!" So gelingt es mir, Charon selbst einzusalben; er geht, ich bestelle mir noch einen Halben. In meiner Kneipenphilosophie geigt mir ein Geiger unentwegt in meinem Mittelohr "Jalousie", so schaurig, dass mir meine Brille beschlägt. Und dann geigt er in der Eustach'schen Röhre, und wenn ich ihn dann ganz deutlich höre, dann fühle ich mich wie neugeboren, und alles verfliegt, was mich vorher gequält; Denn ich schliesse: Noch ist ja nicht alles verloren, solange der Geiger geigt und noch nicht zählt! Vorm Kneipenfenster dämmert ein neuer Morgen, und der Wirt wird mir wohl noch 'nen Halben borgen! Vor mir auf dem Tisch ein Krug voller Bier, eine weisse Mütze von Schaum darauf: So hab' ich es gerne, so sitz' ich oft hier, und räume in meinen Gedanken auf. Ankomme Freitag, den 13. 1969 Kaspar Sie sagten, er käme von Nürnberg her, und er spräche kein Wort. Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her und begafften ihn dort. Die einen raunten: "Er ist ein Tier!", die andern fragten: "Was will der hier?", und dass er sich doch zum Teufel scher'. "So jagt ihn doch fort, so jagt ihn doch fort!" Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt. ?Seht, dieser arme Irre ward vom Teufel gezeugt. "Der Pfarrer reichte ihm einen Krug voll Milch, er sog in einem Zug. "Der trinkt nicht vom Geschirre, den hat die Wölfin gesäugt, den hat die Wölfin gesäugt!" Mein Vater, der in uns'rem Orte Schulmeister war, trat zu ihm hin, trotz böser Worte rings aus der Schar. Er sprach zu ihm ganz ruhig, und der Stumme öffnete den Mund und stammelte die Worte: ?Heisse Kaspar, heisse Kaspar". Mein Vater brachte ihn mit nach Haus: "Heisse Kaspar". Meine Mutter wusch seine Kleider aus und schnitt ihm das Haar. Sprechen lehrte mein Vater ihn, lesen und schreiben, und es schien, was man ihn lehrte, sog er in sich auf - wie gierig er war, wie gierig er war! Zur Schule gehörte derzeit noch das Uttinger Feld, Kaspar und ich, wir pflügten zu zweit, bald war alles bestellt; wie hegten und pflegten jeden Keim, brachten im Herbst die Ernte ein, von den Leuten vermaledeit, von ihren Hunden verbellt, von ihren Hunden verbellt. Ein Wintertag, der Schnee lag frisch, es war Januar. Meine Mutter rief uns: "Kommt zu Tisch, das Essen ist gar!" Mein Vater sagte: " ... Appetit", ich wartete auf Kaspars Schritt. Mein Vater fragte mürrisch: "Wo bleibt Kaspar, wo bleibt Kaspar?" Wir suchten, und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld. Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt, die Augen angstvoll aufgerissen, sein Hemd war blutig und zerschlissen. Erstochen hatten sie ihn, dort am Uttinger Feld, dort am Uttinger Feld! Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular. "Gott nehm' ihn hin in seiner Gnad"', sagte der Herr Vikar. Das Uttinger Feld liegt lang schon brach, nur manchmal bell'n mir noch die Hunde nach, dann streu' ich ein paar Blumen auf den Pfad für Kaspar, für Kaspar. Ankomme Freitag, den 13. 1969 Reinhard Mey live 1971 Leuchtfeuer 1996 Du bist ein Riese ... 1997 Lied zur Nacht Rück' deinen Sessel zu mir her, zieh' den Vorhang zu. Heute nacht kommen sie nicht mehr, heute ist noch Ruh. Das Telefon ist abgestellt. Alle Türen versperrt. Wir sind alleine auf der Welt, bis der Morgen wiederkehrt. Aus dem Fenster unterm Dach sieht man bis zur Front; Mündungsfeuer flackern schwach hinterm Horizont. Abendwind streicht durch's Geäst, durch den Waldessaum. Die Bluthunde schlafen fest, scharren im Traum. Hörst Du, wie die Stille tönt - rings um uns her? Wenn dein Ohr sich daran gewöhnt, erschreckt sie dich nicht mehr. Ist denn Frieden oder Krieg auf diesem Meridian? Nein, in diesem Augenblick denk' ich nicht daran. Ob unser Weg hier enden soll? Ob wir den Morgen sehn? Giess' unsere Gläser noch einmal voll! Und dann lass uns gehn... rück dein Kopfkissen zu mir her, vergiss die Angst, ich zähl' dir Schäfchen, tausend mehr, bis du schlafen kannst! Ankomme Freitag, den 13. 1969 Komm, giess' mein Glas noch einmal ein Komm, giess' mein Glas noch einmal ein mit jenem bill'gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach, heut' trink ich meinen Freunden nach. Bei diesem Glas denk' ich zurück an Euch, mit denen ich ein Stück auf meinem Weg gegangen bin; mit diesem Glas trink' ich im Sinn nach Süden, Ost und West und Nord und find' Euch in Gedanken dort, wo immer Ihr zuhause seid, seh' die Gesichter nach der Zeit in meinem Glas vorüber zieh'n, verschwomme Fotografien, die sich wirr aneinanderreih'n: und ein paar Namen fall'n mir ein, und ein paar Namen fall'n mir ein. Komm, giess' mein Glas noch einmal ein mit jenem bill'gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach, heut' trink ich meinen Freunden nach. Karl der sich nicht zu schade fand, der wenn es mulmig um mich stand, so manche Lanze für mich brach. Auf Claus der viel von Anstand sprach und der mir später in der Tat, die beste Pfeife geklaut hat. Mein Zimmernachbar bei Frau Pohl, der nach Genuss von Alkohol, mein Zimmer unerträglich fand und alles kleinschlug kurzerhand. So übte der sich damals schon, für seine Weltrevolution, für seine Weltrevolution. Komm, giess' mein Glas noch einmal ein mit jenem bill'gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach, heut' trink ich meinen Freunden nach. Dem stets betrunk?nen Balthasar der immer wenn er pleite war, seinen Kredit bei mir bekam, und wenn ich mich selbst übernahm, dann zahlte stets der Franz für mich, bis Balthasar die Schuld beglich. Volker und Georg die mit mir, brüderlich teilten Schnaps und Bier, die fahr'n zu dieser Zeit voll Rum auf irgendeinem Pott herum, auf irgendeinem Ozean und spinnen neues Seemannsgarn, und spinnen neues Seemannsgarn. Komm, giess' mein Glas noch einmal ein mit jenem bill'gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach, heut' trink ich meinen Freunden nach. Verwechsle ich Euch, vergass ich Dich, lässt mein Gedächtnis mich im Stich? Vieles ist schon so lange her! Kenn? ich nicht alle Namen mehr, so kenn? ich die Gesichter doch und ich erinnere mich noch und widme Euch nicht weniger Raum, geschrieben haben wir uns kaum, denn eigentlich ging keiner fort, in einer Geste, einem Wort, in irgendeiner Redensart lebt Ihr in meiner Gegenwart, lebt Ihr in meiner Gegenwart. Komm, giess' mein Glas noch einmal ein mit jenem bill'gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach, heut' trink ich meinen Freunden nach. Aus meinem Tagebuch 1970 Reinhard Mey live 1971 Starportrait 1977 Lass es heut' noch nicht geschehen! Es ist mein drittes Weihnachten, Kerzen erhell'n den Raum, wie rote Äpfel hängen die Glaskugeln dort am Baum. Ich greife nach der grössten und habe sie schon zerkaut, noch ehe mir Mutter kreidebleich auf die Finger haut. Die Strassen sind plötzlich so fremd, jetzt ist der Abend da, ich bin fünf und zu Fuss auf dem Weg nach Amerika, ich friere und hab' Durst und find' es gar nicht so verkehrt, dass mich jetzt grad' die Funkstreife packt und nach Hause fährt. Nein, lass' es heut' noch nicht geschehen, nein, ich bin doch noch nicht bereit, ich kann doch nicht so einfach gehen, es ist doch noch nicht meine Zeit! Seit heute kann ich Schleifen binden und mich selbst anzieh'n, seit heut' hab' ich ein Fahrrad und Heftpflaster an den Knien. Hm, es ist gut im Hause meiner Eltern Kind zu sein, heut' geh' ich meinen Schulweg zum ersten mal allein. Heut' habe ich als erster meinen Freischwimmer gemacht, heut' hab? ich Ulla nach der Tanzstunde nach Haus gebracht, heut' Nacht war es, dass sie mich heimlich in ihr Zimmer liess, das ich auf Zehenspitzen heut' im Morgengrau'n verliess. Nein, lass' es heut' noch nicht geschehen, nein, ich bin doch noch nicht bereit, ich kann doch nicht so einfach gehen, es ist doch noch nicht meine Zeit! Schwarze Figuren wanken einen merkwürdigen Trab. Gleichgültige Gestalten tragen einen Freund zu Grab. Ich hör? die Reden, und es ist mir, als müsste ich schrei'n, ich laufe, bis mir schlecht wird, ich muss alleine sein. In den kalkweissen Kacheln unser beider Spiegelbild, auf ihren spröden Lippen blüht ein Lächeln, das mir gilt. Das Kämpfen ist vorüber, nun hält sie winzig und warm und unendlich verletzlich unser erstes Kind im Arm! Nein, lass' es heut' noch nicht geschehen, nein, ich bin doch noch nicht bereit, ich kann doch nicht so einfach gehen, es ist doch noch nicht meine Zeit! Noch nie hab' ich die staubige Erde so gern berührt, so sanft und weich die Steine an meinen Füssen gespürt. Noch nie hab' ich das Gras am Wegesrand lieber gesehn, noch nie den Wind so zärtlich durch die jungen Halme gehn. Noch nie hab' ich den Duft der Felder in der Mittagsglut so gierig eingezogen, noch nie war mir so zumut beim Anblick eines Raben, der am Mittagshimmel schwebt und langsam niedersinkt, ich hab' noch nie so gern gelebt! Freundliche Gesichter 1981 Live '84 1984Published by Ostufer.Net 2008 / 2023