(hk) Seltsames Transportgut wird seit einiger Zeit über den Ostuferhafen in Kiel-Neumühlen verschifft: Kriegsmaterial aller Art, offenbar US-amerikanischer Herkunft. Angesichts der politischen Gesamtlage eine Aktion, die zu Sorgenfalten Anlass gibt und die ein Novum für Kiel ist. Wer Absender und Empfänger dieser brisanten Ware ist, darüber liess sich erstmal nur spekulieren. Sowohl der Kieler Zoll wie auch die ausführende Fährgesellschaft DFDS-Lisco geben keine Auskunft. Ein sichtlich nervöser Mitarbeiter der Fährgesellschaft konnte oder wollte nicht einmal sagen, ob die Waffen nun ver- oder entladen werden, der Pressesprecher der DFDS in Hamburg hat sich bisher vor Fragen gedrückt. Der Zoll beruft sich auf das Steuergeheimnis und schweigt ebenfalls, obwohl letztendlich kein Grund zum Schweigen vorliegt. Das befremdliche Verhalten der Beteiligten gibt also Anlass zu Spekulationen, Möglichkeiten gäbe es erstmal zwei.
Erste Möglichkeit
Im Juni 2015 hatte die US-Army angekündigt, ihre Militärpräsenz in den baltischen Staaten deutlich zu erhöhen. Dies widerspricht allerdings einem Abkommen mit Rußland, in dem die USA zusichern, keine schweren Waffen dauerhaft an der russischen Grenze zu stationieren.
Schweres Gerät der weltweiten Kriegstreiber No. 1 und No. 2 dauerhaft an dieser direkten Nahtstelle zu wissen, das bereitet vielen Unbehagen. Seit 1991 ist die Ostsse wieder ein freies Gewässer, Jahrhunderte alte Handelsbeziehungen wurden wieder mit Leben gefüllt. Der Ostuferhafen ist ein gutes Beispiel für das Wachsen blühender und friedlicher Handelsbeziehungen. Gerade wird er zum fünften Mal erweitert, eine Fährlinie führt sogar nach St. Petersburg in Rußland. Es kann nicht angehen, dass diese Erfolge durch ein paar schiesswütige Psychopathen - auf beiden Seiten - gefährdet werden.
Viele Balten sehen die Präsenz der NATO allerdings ganz anders. Seit 2004 ist Litauen Mitglied der NATO. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine sind viele froh, Rückendeckung durch ihre NATO-Partner zu bekommen. Litauen hat gerade mal drei Millionen Einwohner, eine schlagkräftige Armee aufzustellen, stößt daher schon auf personelle Schwierigkeiten. Eine Luftwaffe ist so gut wie nicht vorhanden. Daraus ergibt sich aber auch die ...
Zweite Möglichkeit
2014 hat Litauen seinen Wehretat um die Hälfte erhöht. Nach den Ereignissen in der Ukraine ist die Angst vor dem russischen Nachbarn deutlich gestiegen. Auch die "Provokationen" der russischen Armee an der Grenze zu Litauen sowie auf der Ostsee sollen deutlich zugenommen haben. Die Angst resultiert auch aus der litauischen Geschichte: Kaum eine Familie war nicht von den Drangsalierungen oder sogar Deportationen während der sowjetischen Zwangsherrschaft von 1945 bis 1991 betroffen. Es gibt viele Litauer, die in den sowjetischen Lagern in Sibirien geboren wurden. Und die Narben sitzen noch viel tiefer. Schon vor 200 Jahren wurde den Litauern eine eigene Kultur durch die russischen Zaren verboten.
Und so wird massiv aufgerüstet. Es versteht sich, dass Litauen nun nicht mehr russisches Gerät, sondern Waffen aus der Produktion der NATO-Staaten bevorzugt. Begehrt sind neben amerikanischer Ausrüstung auch Panzerhaubitzen aus deutscher Produktion. Gegen die Annahme von Waffenkäufen spricht aber, dass das zu sehende Gerät deutliche Gebrauchsspuren aufweist. Zu sehen waren auch Fahrzeuge in sandfarben, Wüsten sind jedoch in Litauen eher selten zu finden.
Kriegsgerät verschiedenster Art: Bergepanzer, Schützenpanzer, Jeeps und LKW auf einem Güterzug am Liegeplatz 1.
Die Wahrheit ...
... ist eine Mischung aus beidem. Vom 8. - 20. November fand in Litauen die Übung "Iron Sword" statt. An ihr haben mehr als 2.000 NATO-Soldaten aus zehn Staaten teilgenommen. Das Gerät im Kieler Hafen gehört wahrscheinlich zu Einheiten der 1. Brigade der 3. US-Infanteriedivision, die auf einer Art Rundreise durch verschiedene NATO-Staaten ist. Dazu gehören neben den baltischen Staaten und Deutschland auch Polen, Rumänien und Bulgarien. Die auf den Photos zu sehenden Fahrzeuge befinden sich nun auf dem Weitertransport.
Die vier Brigaden dieser Division, beheimatet in Savannah / Georgia sind durch eine Umstrukturierung enstanden, die etwa 2009 abgeschlossen wurde. Obwohl diese "Heavy Brigade Combat Teams" über schweres Gerät wie die in Kiel zu sehenden M1 Abrams Kampfpanzer oder M 88 Bergepanzer verfügen, sind sie extrem beweglich und sehr schnell zu verlegen. Die 1. Brigade ist bereits dreimal im Irak im Einsatz gewesen. Die Brigaden können völlig auf sich selbst gestellt operieren, sie benötigen keinerlei Unterstützung durch andere Truppengattungen. Bis 1996 hatte die 3. US-Infanteriedivision ihre Standorte in verschiedenen Städten in Süddeutschland. Von einer Infanteriedivision kann eigentlich nicht mehr die Rede sein, seit der Umstrukturierung ist diese Einheit eher eine Panzerdivision, der Name wurde aus Traditionsgründen beibehalten. Nach ihrer Rotation soll das schwere Gerät laut Pentagon in Standorten bei Kaiserslautern verbleiben. Insgesamt wurden etwa 750 Fahrzeuge und schweres Gerät in die baltischen Länder verbracht.
An der Übung "Iron Sword" haben auch deutsche Soldaten des Aufklärungsbataillons 13 aus Gotha teilgenommen. Deren Gerät ist allerdings per Flugzeug transportiert worden.
Das, was im Ostuferhafen geschieht, ist also im Prinzip "NATO-Tagesgeschäft". Solche Verlegungen finden im Jahr hunderte von Malen statt, bei allen NATO-Truppen. Brisant bleibt die Lage trotzdem. Im September hat die NATO neue Kommandozentren in osteuropäischen Mitgliedstaaten in Betrieb genommen. In den sechs Kommandozentren in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien sind etwa je 40 Offiziere eingesetzt, so das litauische Verteidigungsministerium. An den Grenzen zum Osten wird eindeutig aufgerüstet. Von beiden Seiten.
Die Provokationen zu Land, zu Wasser und in der Luft sollen von russischer Seite zugenommen habe. Jedes Mal, wenn russische Kampfflugzeuge grenznah aufsteigen, ruft dies auch die dauerhaft stationierten NATO-Abfangjäger auf den Plan. Zudem fliegen die russischen Kampfjets oftmal ohne Transponder, also ohne Erkennungssignal. Das macht nicht nur die NATO-Luftüberwachung nervös, die russische Luftwaffe gefährdet damit auch den zivilen Luftverkehr über der Ostsee. Was im Zweifelsfall und vielleicht durch eine Überreaktion oder ein Versehen passieren kann, das wird uns in der Türkei gerade deutlich vor Augen geführt.
Fazit ...
Die allgemeine Kriegs- und Terrorangst im Land dürfte bekannt sein. Es ist bedauerlich, dass es einem sehr schwer gemacht wird, ausnahmsweise mal beruhigend zu berichten. Die Fährgesellschaft DFDS hätte die Angelegenheit in wenigen Minuten klären können. Wenn der Zoll sich bei einer einfachen Ein- und Ausreise hinter dem Steuergeheimnis verkriecht, dann ist man geneigt, träges, deutsches Beamtentum oder schlichtweg Faulheit zu unterstellen.
Völlig ins Leere läuft man bei der Bundeswehr. Auf der Webseite des Presse- und Informationszentrums des Heeres heisst es: "Das PIZ Heer steht allen Journalisten und Medienvertretern, ... rund um die Uhr als Ansprechpartner zur Verfügung.". Nach etlichen, vergeblichen Anrufversuchen drängt sich nur noch die Frage auf, ob in diesem maroden Haufen jetzt auch die Telefone nicht mehr funktionieren.
Auskünfte waren lediglich bei der US-Army zu bekommen, die mit ihren Informationen ganz offen umgeht.
Die Waffen werden von Rollcontainern der Fährgesellschaft DFDS auf einen Güterzug verladen. Zu sehen sind Bergepanzer vom Typ M 88 sowie ein "Hummer" Geländefahrzeug.
Querverweis: Der Ostuferhafen - Photoserie
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